Das Erbe des 20. Jahrhunderts lastet schwer auf der französischen Philosophie: Während die Namen der Stars jener Jahre, die heute als die eines wilden Lesens und Schreibens gelten, nach wie vor allgegenwärtig scheinen, lassen sich jüngere Stimmen – zumindest diesseits des Rheins – nur vereinzelt vernehmen. Doch was entgeht dem Blick, der nur an den alten Meistern haftet? Und welche neuen Möglichkeiten bieten sich dem Denken andererseits, wenn es sich ein wenig vom Gewohnten löst – zwar in Auseinandersetzung mit seinen Bedingungen, aber stets auch darüber hinaus?
Die Reihe dis:positions | Französische Philosophie heute hat es sich zur Aufgabe gemacht, philosophische Schleuserin zu sein, die Grenzen überwindet und in Deutschland bislang weniger bekannten Denkerinnen und Denkern ein Forum bietet. Das französische Denken allerdings, die französische Philosophie, so wird sich dabei auch zeigen, gibt es nicht, und entsprechend muss sich der Anspruch auf den Versuch beschränken, Schlaglichter auf einzelne Ideen zu werfen, ohne vermessene Ambitionen auf Vollständigkeit oder Objektivität. dis:positions ist nicht mehr, nicht weniger, als die Bemühung, monatlich und an wechselnden Orten in Berlin, einige aktuelle Positionen und Dispositionen des Denkens zu präsentieren und ins Gespräch zu bringen.
#1 Populismus
Mittwoch, 24. Mai 2017, 19 Uhr, Institut Français
Veranstaltung auf Französisch mit deutscher Übersetzung.
Ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa. Auch nach den Präsidentschaftswahlen in Frankreich zählt der Populismus zu den Themen der Stunde. Doch was bedeutet das eigentlich, „Populismus“? Auch die Philosophie kommt angesichts der Unklarheiten, die schon allein die Konjunktur des Begriffs mit sich bringt, nicht umhin, sich dieser Frage zu stellen – denn letztlich betrifft sie, hier und heute, die Möglichkeit der Gesellschaft als Gemeinschaft selbst. Was ist Demokratie? Was heißt Teilhabe? Was bedeutet Repräsentation? Was ist Gerechtigkeit? Welche Rolle spielen Rationalität und Affekte im politischen Prozess? Auf welche Weise sind politische Konflikte auszutragen? Diese und viele weitere Fragen kristallisieren sich im Augenblick nirgends besser als am Begriff des Populismus.
Es diskutieren:
Éric Fassin Université Paris-VIII
Estelle Ferrarese Université de Picardie Jules Verne
Jean-Claude Monod CNRS | Archives Husserl de Paris
Moderation: Roberto Nigro Leuphana Universität Lüneburg
#2 Lebensformen
Dienstag, 20. Juni 2017, 19.30 Uhr, ICI Berlin
Veranstaltung auf Englisch.
Das Leben erzwingt das Denken, es stellt Probleme und konstituiert sowohl Bedingung als auch Gegenstand der Philosophie. Sei es im Rahmen von Fragen der Epistemologie und der Wissenschaftsphilosophie, der Ethik, der Politik, der Technik, der Ästhetik oder der Metaphysik, Konzeptionen des Lebens und des Lebendigen bleiben, ganz wesentlich und unweigerlich transdisziplinär, im Kern des philosophischen Denkens heute. Dementsprechend versammelt diese zweite Aufeinandertreffen in der Reihe dis:positions drei Protagonisten eines moment du vivant in der aktuellen französischsprachigen Philosophie und provoziert so ein dezidiert undiszipliniertes Gespräch, eine Modulation der Philosophie durch alle Bereiche des Wissens hindurch.
Es diskutieren:
Emanuele Coccia École des Hautes Études en Sciences Sociales
Frédéric Worms École Normale Supérieure
Caterina Zanfi Bergische Universität Wuppertal
#3 Erde (lokal, global, orbital)
Donnerstag, 13. Juli 2017, 19.30 Uhr, diffrakt | zentrum für theoretische Peripherie
Veranstaltung auf Englisch.
Muss sich die Philosophie letztlich mit der Vorstellung begnügen, dass wir im besten Fall noch auf ein anderes Ende der Welt hoffen dürfen? Und ist das Globale heute wirklich bloß eine Frage von Standardisierung und Logistik? Oder gibt es noch aussichtsreichere Formen der Auseinandersetzung mit der Welt, dem Globus und schließlich: der Erde, jenseits aller Lähmung durch Hyperobjektivität und apokalyptische Katastrophismen? Diese Sitzung der dis:positions möchte die Erde wieder als philosophisches (und metaphysisches) Problem begreifen, als ein Objekt, das nicht einfach gegeben ist, sondern der Elaboration bedarf. Ausgehend von lokalen Paradigmen mag es uns so nach und nach gelingen, die globalen Verschränkungen der Dinge zu verstehen.
Es diskutieren:
Élie During Université Paris Nanterre
Patrice Maniglier Université Paris Nanterre
#4 Arbeit
21. September 2017, 19 Uhr, Centre Marc Bloch
Veranstaltung auf Französisch mit deutscher Übersetzung.
Wirtschaftliche und technologische Umwälzungen haben unser Verständnis von Arbeit grundlegend verändert. Doch während ökonomische und soziologische Analysen nicht selten zur Diagnose eines Verschwindens der Arbeit geführt haben, interessieren sich Philosophinnen und Philosophen auch für etwas anderes: für die »Zentralität« der Arbeit unter ethischen, psychologischen und sozialen Gesichtspunkten. Denn während Arbeit einerseits zum Ort neuer Ansprüche der Selbstverwirklichung und Autonomie wird, ist sie andererseits auch oft Ort des Leidens.
Wie lässt sich verstehen, was die Aktivität der Arbeit ausmacht? Was offenbart sie über unsere Gesellschaften? Können wir uns gar von der Arbeit befreien? Diese und andere Fragen stellen sich Philosophinnen und Philosophen, die ihren Blick heute auf die Arbeit und ihre gesellschaftliche Bedeutung richten.
Es diskutieren:
Jean-Philippe Deranty Macquarie University
Katia Genel Université de Paris 1 Panthéon-Sorbonne | Centre Marc Bloch
Michel Lallement Conservatoire National des Arts et Métiers
Bénédicte Zimmermann École des Hautes Études en Sciences Sociales
#5 | Das Universelle
Donnerstag, 14. Dezember 2017, 19 Uhr, Salle Germaine Tillion, Centre Marc Bloch, Friedrichstraße 191
Französisch mit deutscher Übersetzung
In den letzten Jahren hat das zeitgenössische Denken die Frage nach dem Universellen immer wieder neu aufgeworfen. In der Philosophie waren es dabei nicht zuletzt einige Reaktionen auf die poststrukturalistische, kulturalistische und relativistische Kritik eines abstrakten Universalismus, die im Kampf gegen eine Proliferation des fake und ein stetiges Entgleiten der Tatsachen zuweilen neue Formen des Realismus hervorbrachten, an die sich immer wieder auch eine Rückkehr zum universalistischen Diskurs der objektiven Wahrheit knüpfte. Doch was möchte ein solches Programm – und ist es überhaupt haltbar? Trägt es nicht die eigentlich drängende Frage des Universellen letztlich im Namen eines plakativen neuen Universalismus zu Grabe? Eine wirkliche Rückkehr zur Frage des Universellen muss keineswegs Rückkehr zu universeller Einfachheit sein. Ganz im Gegenteil: Der Hinweis auf die Gefahr einer extremen Partikularisierung strebt nicht nach der Setzung einer gemeinsamen Norm, sei sie nun wissenschaftlich, ethisch oder linguistisch. Vielmehr muss die Suche nach dem Universellen von jetzt an unter der Bedingung seiner Parikularisierung stattfinden. Eine bipolare Welt, die der Ordnung einer unhinterfragbaren Hegemonie gehorcht, könnte sich auch mit einem einfachen Bild des Universellen begnügen; doch eine multipolare Welt, die sich im Prozess der ständigen Rekomposition befindet, fordert dazu auf, die mannigfaltigen Formen eines kommenden Universellen auf konkrete Weise neu zu denken.
Es diskutieren:
Bruno Karsenti École des Hautes Études en Sciences Sociales
Markus Messling Centre Marc Bloch
Isabelle Thomas-Fogiel Université d’Ottawa
Denis Thouard CNRS | EHESS | Centre Marc Bloch
Konzept: Moritz Gansen | Hannah Wallenfels