Félix Guattari, Les années d’hiver, 1980-1985

Ich hab‘ zu meinem Bücherregal und meinen Bücherstapeln noch nie Bibliothek gesagt. Aber wenn man das so mal nennen will, dann ist im Kontext der Recherche zur Ausstellung instant theory. Die M-Fotoserie des Merve Verlags Félix Guattaris Aufsatzsammlung Les années d’hiver Teil meiner Bibliothek geworden.

„Fragen des Rassismus sind nicht trennbar vom Gefüge der sozialen und politischen Bestimmungen, die wir in der Gesellschaft beobachten. Das heißt, etwas lapidar ausgedrückt: Wir haben den Rassismus, den wir verdienen.“

Guattaris Texte über Rassismus, soziale Bewegungen und die Kritik an parlamentarischer Politik wurden bisher kaum auf Deutsch veröffentlicht, und das ist auch kein Zufall. Vermutlich ist es oft der akademische Betrieb, der federführend über das verlegerische Sexappeal entscheidet, und Guattari als Koautor von Deleuze schneidet hier nun mal am besten ab, gefolgt von Guattari als Schizo-Analytiker und Guattari als eher intuitiv gutem Medientheoretiker. Orientieren sich die verlegerischen Initiativen an der Uni und weniger am Aktivismus, ist klar, dass die Polit-Texte (abgesehen vielleicht noch von den kapitalismuskritischen) eher fehlen, weil sie als unwichtig(er) wahrgenommen werden.

Dabei finden sich in Winterjahre auch Anekdoten über Deleuze als Koautor von Guattari, über die (überraschende) Ablösung der Ehe durch Polygamie in der La Borde-WG oder auch Einsichten in die Notwendigkeit einer demokratischen Nutzung der neuen technologischen Medien, doch interessanter sind die politisch wütenden Artikel wie „Gegen den französischen Rassismus“ oder das kollektiv verfasste Manifest „Nein zum Frankreich der Apartheid“. Diese Texte zu Rassismus haben einen satten stilistischen Drive und stehen zu vermeintlich dreisten Forderungen, von denen wir uns mehr als eine Scheibe abschneiden könnten. Die in den 1980er-Jahren von vielen erhobene politische Forderung etwa, dass in Frankreich geborenen Kindern auch das Recht auf die französische Staatsbürgerschaft zugestanden werden sollte, wurde 1993 tatsächlich in ein Gesetz überführt. In Deutschland trat hingegen im selben Jahr eine massive Aushöhlung des Asylgesetzes in Kraft. Diese Beispiele sind nicht vergessen und lassen sich in Beziehung zueinander setzen, wenn von Abschiebung bedrohte Kinderköpfe gestreichelt werden.

„Ich gehöre zu denjenigen, die die 1960er-Jahre als einen immerwährenden Frühling erlebt haben. Nun habe ich einige Mühe, mich an den langen Winter der 1980er-Jahre zu gewöhnen!“

Zwar ist die Zeit der großen gegenkulturellen Illusionen nach 1968 vorbei und die Politik der seit 1981 regierenden sozialistischen Partei hat den gesellschaftlichen und institutionellen Rassismus verstärkt, doch Guattari lässt diesen ‚Winter‘ nicht in eine Kapitulation münden. Er wendet den Blick auf die Ränder der Gesellschaft, an denen sich alternative Organisationsweisen und Kampfformen herausbilden. Die Marginalisierten sind so divers, dass sie nicht mehr von einer klassisch organisierten politischen Form repräsentiert werden können. Neue Impulse, Bewegung und Widerstand kommen nicht aus einer von 1968 und den Sozialutopien enttäuschten Linken, sondern aus den Patchworks der Minderheiten. Den homosexuellen, feministischen und autonomen Kämpfen gelingen so die stärksten Bündelungen von Kreativität in einer Gesellschaft, in der die traditionellen Vermittlerinstitutionen (Parteien, Wahlen) nicht mehr identitätsstiftend sind.

Félix Guattari, Les années d’hiver, 1980-1985, Paris 1986, S. 45.

Anstatt sich in einer Vergangenheit zu verbunkern, versucht Guattari, aus den Erfahrungen der zurückliegenden Jahre Handlungsmodelle abzuleiten, die im Dienste „zukünftiger aktivistischer Zusammenschlüsse und Maschinen des Kampfes für Freiheit“ stehen. Durch diesen Fokus auf Beweglichkeit und Handlungsorientierung sind seine Texte für uns auch 40 Jahre später ziemlich hilfreich angesichts der nach wie vor anhaltenden, global wirksamsten und schädlichsten Entwicklung: unsere (aktuell durch die Pandemie verschärfte) tödliche Abschottung gegenüber den Geflüchteten an den Grenzen Europas und Nordamerikas. Paul Preciado ist einer, der das gerade total auf dem Schirm hat und Guattaris Begrifflichkeiten und Denkfiguren sinnvoll einbringt. An diesen Schnittstellen der Rückbindungen in politische Subkulturen weiterzudenken und vielleicht weiterzuverlegen, könnte den Radius des ein oder anderen aktivistischen Feldes (auch des universitären) erweitern.

Elisa Barth

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