Alain Damasio, – aufrecht im Freien stehen :
La horde du contrevent / Les furtifs


– Les Furtifs [Die Flüchtigen].

Begegnung mit unseren Grenzsinnen.

Im toten Winkel unserer Blickfelder, außerhalb der gewohnten menschlichen Wahrnehmung, leben, verborgen und in ständigem Wandel, Wesen von unbeständiger und zerbrechlicher Gestalt. Werden sie gesehen, und sei es nur aus dem Augenwinkel, erstarrt die ihnen innewohnende Vitalität zu einer trägen, toten Form.
Als lebendige Metaphern und Metamorphosen an den Grenzen des überhaupt Fassbaren sind die Furtifs eine Hymne an die TAZ, ZAD, ZAG und andere Zonen, die in den Falten der bestehenden Mächte existieren, selbst inmitten der Kontrollgesellschaften: Opazitäten, Schwungvolligkeiten, die sich der menschlichen Wahrnehmung ebenso entziehen wie noch den raffiniertesten Such- und Erkennungstechnologien.

Ob die Furtifs nun Tiere sind, Kreaturen „aus Schall und Leib“ oder Geschwindigkeitswirbel, die ihre Umwelt unablässig verzerren – Tiere, Kreaturen oder Geschwindigkeitswirbel, die aus einen Kräuseln irgendwo außerhalb unseres Wahrnehmungsfeldes entstehen, die ihre eigene Form durch einen Klang knittern und glätten –, sie eröffnen ein sich immerfort wandelndes Feld wechselnder Verbindungen, die unsere Fähigkeit des Einanderbegegnens fordern. Wenn sie bei jeder ihrer Wandlungen eine neue Immanenzebene schaffen, wenn sie sind, auch ohne eine bestimmte Form oder Identität: Wie ist es überhaupt möglich, ihnen zu begegnen?

Alain Damasio, La Horde du Contrevent, Paris 2004, S. 1.

Chrone, Form einer dahintreibenden dichten Stille…“


– La Horde du contrevent
[Die Gegenwindhorde].

Die Suche nach der Quelle des Windes spielt in einer Welt, die ge- und verformt wird von Winden, die ununterbrochen vom unerreichbaren Fernen Windhang (Extrême-Amont) her wehen. Auf dem Weg dorthin ist es überlebensnotwendig, den unterschiedlichen Formen des Windes in einer Art Nahkampf zu begegnen, sie so kennen zu lernen, durch eine intensive Präsenz und ein feines Gespür für die verschiedenen Geschwindigkeiten und Rhythmen. Die Reise wird so zur Initiation, sie wird nur möglich durch ein ständiges Überschreiten der eigenen Wahrnehmungs- und Verbindungsfähigkeiten, eine Nähe zu den Lebenden, eine Quasi-Fusion – so nah am Wind wie nur irgend möglich.


– aufrecht im Freien stehen

Als ich zum ersten Mal – mit 17, und ohne ihn zu verstehen – einen Text von Gilles Deleuze las, hatte ich genau dieses Gefühl: im Freien zu stehen. Ein Lesen mit klopfendem Herzen, ein Lesen, ohne im Text zurückzugehen, ein Lesen zwischen all den Falten, eine Erfahrung, die mich plötzlich erfasste und bewegte, verrückte. Es war eine physische Empfindung, ein Affekt, ein Gefühl von Raum und zugleich ein Schock, zu sehen, wie sich solch gewaltige Landschaften entfalten, so offen, so weitläufig – und doch fast schon zu vertraut. Es war, als atmete ich den Geruch eines Holzfeuers – und wollte sofort an anderer Stelle das nächste anzünden.

In jenem Moment, als ich den Text las, ohne ihn zu verstehen, oder besser gesagt, ihn sofort aufnahm, wie er war, mit diesem Gefühl, dass seine gesamte körperliche Kraft in mich einsickerte, wurde er ein Teil von mir. Ich habe lange Zeit gar nicht erst versucht, ihn wieder zu lesen, aber ich habe nie aufgehört ihn neu zu schreiben, zu versuchen, andere Orte für ihn zu finden, ihn in andere Lichter zu stellen, seine Ausstrahlung und Wirkung zu betrachten.

Und es war genau das selbe Gefühl bei der Furie-Sprache der Horde du Contrevent oder später beim nicht wahrnehmbaren Gemurmel der Furtifs: eine Begegnung mit einem Text als Luftzug.

Wenn eine solche Begegnung stattfindet, ist es wahrscheinlich eine Chance, nichts zu verstehen. Eine Chance, dieses Etwas sich entfalten zu lassen, das sich in uns bewegt und nach Sprachen ruft, die wir gelernt haben zu vergessen. Einen Text zu lesen, ohne ihn zu verstehen, und dabei die plötzliche intime Erfahrung zu machen, dass unsere Wahrnehmung ein Feld der Erfindung und des Widerstands ist. Unsere Wahrnehmungen sind eng mit den Sprachen verwoben, die wir üblicherweise verwenden, mit den Vorstellungen, die wir uns bilden, und die uns selbst wiederum formen und verformen. Dieses Gefühl einer Intimität, einer innigen Vertrautheit mit dem Text, rührt so vielleicht aus den fernen Echos alter Sprachen, die von Kindheit an überdeckt, abgewertet und aus der Erinnerung verbannt wurden. Die physische Annäherung an Texte dagegen lässt uns andere Sprachen mitten in der Sprache neu erlernen. Wenn die Bedeutung(en) der Wörter sich vervielfacht und verzweigt und dann wiederum in einem Überfluss aufeinanderprallt, der zu intensiv und zu komplex ist, um vollständig erfasst zu werden, etwa in den langen Tiraden des Troubadours Caracole, und beim Gefühl, dass man diese Bedeutung(en) nie erschöpfen wird, erlebt man das Vergnügen, dem Text zu begegnen und ihn kennen zu lernen – und zu fragen, was man überhaupt versteht.

Sich von der Kraft der Vorstellung mitreißen zu lassen, ob nun in der Philosophie oder der Fiktion, bedeutet, zu lernen, dass es Sprachen gibt, die zum Schweigen gezwungen wurden, und dass es notwendig geworden ist, von diesen virtuellen Formen des Widerstands zu erzählen. Bilder und Erzählungen zu erfinden, bedeutet, Räume neu zu erfinden für soziale und politischen Dimensionen, die uns andernfalls erschöpfen oder ersticken: Unsere Vorstellungen sind unseren Körpern, unseren Gesten, unseren Handlungen eingeschrieben und formen die Räume, in denen wir leben.

Dabei sind unsere Archive leer. Wir sind arm an Geschichten in unseren Sprachen. Und angesichts dieses schmerzlichen Mangels an gesellschaftlichen und politischen Antizipationen, Imaginationen, die gegen kapitalistische Entfremdungsformen ankämpfen können, ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass dieser Wahrnehmungswandel mit Damasio oder Deleuze eine direkte Eintrittskarte zur Revolte der Poesie beinhaltet: eine Poesie, der der Ärger über eine unzureichende Aufmerksamkeit für die Welt eingeschrieben ist. Sich mit Grenzbildern, Empfindungen und vernebelten, abgeschriebenen Wörtern (wieder) zu verbinden, bedeutet, wieder in Beziehung zu einer Kindheit zu treten, die nicht zuletzt aus dem Erlernen der gemeinsamen Sprache bestand – und dem gleichzeitigen Verzicht, der erzwungenen Abwertung, der lebenden Sprachen in uns. Sich mit diesen intimen, verborgenen Sprachen (wieder) zu verbinden, die seit der Kindheit aus der Erinnerung verbannt wurden, bedeutet, sich einem Verrat zu stellen, der so alt ist, dass man ihn mit dem Eigenen selbst verwechselt. Wie konnten wir die Gewalt dieser Zuordnung zu einer einzigen Sprache und einer einzigen Identität vergessen?

„Unsere Lebenskräfte gründen auf einer Kunst der Begegnung, die schon an sich eine Politik ist, nämlich die des Zuhörens und des Willkommenheißens, der Gastfreundschaft gegenüber dem Neuen, das plötzlich auftaucht. Die Fähigkeit, aufrecht im Freien zu stehen – in dem, was man das Rot-Offene nennen könnte, in einem Feld vibrierender und rauschender Intensität, aufmerksam und wachsam. Und weil eben die Begegnung, der aktive Akt des Affizierens und des leidenschaftlichen Affiziertwerdens, uns zu den Lebenden führt, wird es entscheidend, zu begegnen.“

Mantract, auf dem Album Entrer dans la couleur zu Les Furtifs (Jarring Effects Label und La Volte, 2019).


– Möglichkeiten, sonst ersticke ich

Das Ausmaß dieser Vergessenheit zeigt sich in der Art und Weise, wie wir leben und unseren realen und imaginären Räumen Formen geben: Während viele Romane letztlich Innenräume und Festungen zelebrieren, gehen nur sehr wenige – zu wenige – unserer Geschichten auf die Suche nach dem Außen, dem offenen Freien, ohne dabei gleich zu versuchen, es zu kolonisieren. Auf der von Damasio entworfenen Immanenzebene, selbst in den Wüstenräumen einer Welt, in der es unmöglich ist, überhaupt stehen zu bleiben, ohne vom Wind davon gefegt zu werden (La Horde du Contrevent), oder in den von Zeichen übersättigten Städten, in denen die Körper in Räumen der panoptischen Kontrolle herumirren (Les Furtifs, La Zone du Dehors), gibt es immer noch Mögliches – Möglichkeiten, diese Welten zu bewohnen.

Alain Damasio und Éric Henninot, La horde du contrevent, Band 1, Le cosmos est mon campement, Paris 2017, S. 1 (Ausschnitt).

In La Horde du Contrevent lösen sich die Körper im Angesicht der Gewalt des Windes in Zeichen und Rhythmen auf, ohne aber zu verschwinden: Sie werden aufgenommen, sie schreiben sich in andere Körper ein, in menschliche, mineralische oder pflanzliche, in flüssige oder in der Erinnerung bestehende, in Körper direkt neben ihnen. Solche Formen, solche Bilder einer Verbindung mit allen Lebenden, sind selbst ein performativ aufgeladener Akt des Widerstands. Wenn solche Bilder im Text realisiert werden, wirken sie auch auf unsere Aufmerksamkeit für das, was es gibt, was da ist.

Was kann „aufrecht im Freien stehen“ (se tenir debout dans l’ouvert) also bedeuten, jenseits und außerhalb des Textes – in dem, was es gibt, dem, was da ist, in den Räumen, den Immanenzebenen, den Falten, den Zonen oder den Möglichkeiten, wenn man so möchte, die man eben zu bewohnen oder zu beleben versucht? Gerade in Situationen, in denen die Fähigkeit zum Zusammenleben und zur Gestaltung von Lebensräumen eng mit dem Ort selbst in Beziehung steht, lassen sich die Nähe und die Symbolkraft der Verbindungen mit dem Raum konkret erfahren. Wenn es zum Beispiel darum geht, einen Ort zu verteidigen oder zu schützen (vom Garten bis zur ZAD), sich direkt mit dem eigenen Körper zu engagieren, wird konkret eine Vielfalt an Verknüpfungen am und zum Ort mitgewoben. Es liegt also nahe, dass solche Formen besonders sichtbar und politisch wirksam werden. Noch der zerbrechlichste Schutz (eine Maske, eine Brücke, ein Turm, ein Vorhang, ein Kissen, ein Fenster) – umso mehr vielleicht, wenn er von Hand und in Eile gefertigt wurde – strahlt weit über seine bloße Materialität hinaus. Genau in dem Moment, in dem solche neuen Konfigurationen von Verbindungen entstehen, nähren all diese dem Leben zugewandten Formen, hastig, wackelig, zerbrechlich, die Vorstellungskraft. Auch wenn diese realen Orte zu verschwinden drohen, werden die Geschichten diese Möglichkeiten und ihren Atem weiter existieren und zirkulieren lassen.

Schon dem Bild des leeren Raumes eine Praxis der Aufmerksamkeit für den (gebundenen und unmittelbaren) Raum entgegenzusetzen, bedeutet, andere Möglichkeiten zu schaffen, und die, die es gibt, die schon da sind, zu stärken – aufrecht im Freien zu stehense tenir debout dans l’ouvert.

Claire Mélot

Alain Damasio und Éric Henninot, La horde du contrevent, Band 1, Le cosmos est mon campement, Paris 2017, S. 55 (Ausschnitt).

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